Audio-Workshop “City of Trees”
Wie klingt ein Buch? Welche Geräusche, Lieder und Sounds finden wir auf den Seiten des Romans “City of Trees” der Autorin Chantal-Fleur Sandjon? Wie können wir Figuren und Themen des Buchs hörbar machen? Und was lernen wir über einen Roman, wenn wir uns fragen, wie er klingt – für uns und für andere?
Diesen Fragen gingen 32 Schüler*innen der 10. Klasse des Melanchthon-Gymnasiums in Marzahn-Hellersdorf in einem zweitägigen Workshop unter der (An)Leitung der Kulturakteurin, Kuratorin und Soundkünstlerin Nadine Moser und der Dramaturgin Sarah Israel nach. Gemeinsam mit den Schüler*innen und gerahmt von einem Besuch der Autorin begab sich der Workshop auf eine Reise in die vielfältigen Klangdimensionen des Romans. Die teilnehmende Klasse entwickelte in kreativen Zugriffen auf gewählte Textstellen eigene Lesarten, kleinen Kompositionen und Audioaufnahmen, die die Klangwelt des Romans „City of Trees“ zum Leben erweckten.
Worte zum Roman
“City of Trees” (erschienen 2024 bei Thienemann) der afro-deutschen Autorin Chantal-Fleur Sandjon ist ein komplexer Jugendroman, der mit verschiedenen sprachlichen Ebenen arbeitet und auf beeindruckende Weise Klänge, Rhythmen und Songs in seiner Handlung thematisiert und zugleich integriert. Chantal-Fleur Sandjon arbeitet mit einer Vielzahl von Verweisen und Anmerkungen zu Schwarzer Musik und webt diese wie feine Fäden in die Handlung des Buchs ein. Zugleich führt Sandjon Prosa und Poesie zusammen in einem Buch, das mit einer Pflanzen und Flechten nachempfindenden Formensprache spielt, und macht Stimmen aus unterschiedlichen Zeiten und von diversen Akteur*innen: Menschen, Bäumen, Toten, Käfern hör- und erfahrbar. Der Roman erzählt auf komplexe Weise von der hybriden Lebenswelt südafrikanischer diasporischer Schwarzer Identität in Deutschland und macht greifbar, welche Rolle verschiedene Formen von ‚Familie‘ und Beziehungsgeflechte von Menschen und Natur für nie eindimensionale kulturelle Identität spielen.
Wie klingst du?
Den Workshop konzipierten Nadine Moser und Sarah Israel um die Frage nach dem Sound des Buchs herum. Ziel des Workshops war, die Teilnehmer*innen selbst kreativ werden zu lassen und eigene Lesarten in unterschiedliche Audioformate zu übersetzen. Während Literatur meist mit dem (stillen) Lesen, dem gedruckten Text und dem von Buchdeckeln gerahmten gebundenen Text gleichgesetzt wird, stellten die Workshop-Leiter*innen einen spielerischen Zugang zum Text an den Anfang: Wie klingst du denn? Wie geht es euch und wie würdet ihr dieses Gefühl in ein Geräusch übersetzen? Keine Textzusammenfassung oder Literaturanalyse, wie das meist im Unterricht eingeübt wird, sondern eine Annäherung, die die Medialität in den Mittelpunkt stellte und die Teilnehmer*innen von Anfang sinnlich mit in die Arbeit mit dem Roman hineinnahm.
Im Gespräch mit der Autorin
Ein Highlight des Workshops war der Besuch und die Lesung der Autorin Chantal-Fleur Sandjon, die in der Aula des Melanchthon-Gymnasiums Passagen des Romans hörbar machte und mit den Schüler*innen ein von der Klasse vorbereitetes und moderiertes Gespräch führte. Anstelle eine eher passive Position des Zuhörens einzunehmen, waren es die Schüler:innen selbst, die über das Format und die Themenschwerpunkte der Begegnung mit Chantal-Fleur Sandjon entscheiden konnten. Inspiriert von eigenständig recherchierten Radio-Interviews und Ausschnitten aus Literatur-Podcasts führten die Schüler*innen ein Gespräch zum Schreibprozess, zum formalen Aufbau des Romans und zur Wichtigkeit der Themen von Klimawandel und Identität. Im Anschluss an die Lesung präsentierten die Schüler*innen der Autorin eine Auswahl ihrer Mini-Kompositionen, die sie in Auseinandersetzung mit dem Text entwickelt hatten.
Leseerfahrungen hörbar machen
Um einzelnen Motiven noch näher zu kommen, waren die Schüler*innen eingeladen, sich zu fragen, wie Einsamkeit, Schweigen, Wald, Gemeinschaft für sie klingt. Ihre Assoziationen wurden von den Schüler*innen in eigene kleine Kompositionen übersetzt und so für die gesamte Workshop-Gruppe akustisch erfahrbar gemacht. Mit verschiedenen Instrumenten von Klavier, über Geige und Trommel bis zum alternativ bespielten Xylophon und der Triangel, mit Gesang und mit vielen Perkussions-Instrumenten übersetzte die Klasse ihre Interpretationen von Einsamkeit, Schweigen, Wald und Gemeinschaft in spontan komponierte und aufgeführte Musikstücke.
Das Buch als Soundmaschine
Neben den menschlichen Protagonist*innen des Romans sind es der Wald, die Bäume, Flechten und seine Bewohner*innen, die eine zentrale Rolle in „City of Trees“ spielen. Die Schüler*innen gingen auf die Suche nach Geräuschen und Sounds im Außenraum – sie erstellten sogenannte ‚field recordings‘ angeleitet von der Frage, wie spezifische Momente oder Themen des Romans hörbar gemacht werden können. Wie kann z.B. das im Roman beschriebene Rauschen des Waldes erklingen? Wie kann das Gefühl von Panik und Beklemmung, dass die Hauptfigur Khanyi oft ergreift, via Sound erfahrbar gemacht werden? Die Soundaufnahmen der Schüler*innen erproben akustische Übersetzungen der Bewegungen im dunklen Wald und der Verwandlung der Jugendlichen in Bäume. Zugleich wurde das Buch selbst zur Soundmaschine: wurde zur Trommel, flog gegen die Wand, rieb seine Seiten aneinander, knackste und schrammte mit dem Buchrücken, schlug seine Deckel heftig zusammen.
Stimmen vertonen
Wie imaginieren wir die Stimme der Protagonistin Khanyi? Oder die ihrer, aus Südafrika angereisten, Großmutter? Wie klingt es, wenn der Wald spricht, wie klingen die Kinder, die zu Bäumen werden? Und wie spricht der Käfer, der anscheinend inspiriert vom „Click- Song“ der Musikerin und Aktivistin Miriam Makeba als Figur in das Buch gewandert ist? Ausgehend von selbst gewählten Textpassagen erstellten die Schüler:innen kleine ‚Stimm-Skripts‘, d.h. Passagen mit Dialogen, Monologen oder Gedankenströmen. Diese Texte wurden dann eingesprochen – alleine, abwechselnd oder chorisch, laut, leise, flüsternd, verzerrt. Manchmal übernahmen auch Instrumente einzelne Stimmen oder die Instrumente dienten zur atmosphärischen Untermalung der Textpassagen.
Sich dem Roman über die Frage zu nähern, wie ein literarischer Text zu klingen gebracht werden – das haben die Schüler*innen mit Instrumenten, Gesang, Sounds und Geräuschen erprobt und wundervoll umgesetzt. Literatur ist eben mehr als nur stille Lektüre oder analytischer Umgang mit dem gedruckten Buch.
Der Workshop fand im Rahmen des Jungen Programms des internationalen literaturfestivals berlin (ilb) 2024 statt und war Teil der diesjährigen kooperativen Reihe „Echo. Echo: Temporal Collectives“ zwischen dem Cluster und dem Festival. Das Junge Programm des ilb präsentiert ein vielfältiges Lesungs- und Workshopangebot. Seine Aktivitäten verstehen sich als umfassende Initiative zur interaktiven Leseförderung und Stärkung interkultureller Kompetenzen. Der Workshop wurde finanziert und mitbetreut vom Exzellenzcluster „Temporal Communities“. Das Kinder- und Jugendliteratur-Programmteam des ilb hat den Workshop organisiert.
Wir danken der 10. Klasse des Melanchthon-Gymnasiums für ihr Engagement und ihre tollen Beiträge und der Autorin Chantal-Fleur Sandjon für ihren Besuch und das wunderbare Gespräch mit den Schüler*innen.
Workshopleitung: Sarah Israel & Nadine MoserOrganisation: Maud Ruget (ilb)
Lehrkräfte: Antje Maeder & Cathleen Lüdde
Audiobearbeitung: Nadine Moser
Texte und Dokumentation: Sarah Israel, Jan Fusek & Sima Ehrentraut