Leben, Lesen und Schreiben am Prenzlauer Berg
Studentische Beiträge zum Workshop »DDR-Literatur und die Avantgarden«, 19. - 20. Juli 2021
Am 19. und 20. Juli fand im Projekt »Writing Berlin« des Exzellenzclusters 2020 »Temporal Communities« ein Workshop mit internationalen Gästen statt, der Spuren der literarischen und künstlerischen Avantgarden in der DDR aus verschiedenen Blickwinkeln nachzeichnete. Ein Schwerpunkt des Workshops lag dabei auf der oftmals als »DDR-Avantgarde« etikettierten Literatur- und Künstler:innenszene des Ostberliner Stadtteils Prenzlauer Berg. In einem an den Workshop gekoppelten Seminar erarbeiteten Masterstudierende der Freien Universität Berlin unter der Leitung von Jutta Müller-Tamm und Lukas Nils Regeler kreative Beiträge zu dieser vielgestaltigen inoffiziellen Literaturszene. Ergebnisse dieser Arbeiten waren etwa Audiofeatures mit Zeitzeuginnen-Interviews (Beiträge von Sarah Mahlberg, Hannah Würsching), Text- und Materialschauen (Beiträge von Stefanie Goebel, Laura Kiefer), Betrachtungen des Literaturbetriebs vor Ort (Beitrag von Sara Cecchini) sowie ein kreatives Kurzfilmprojekt zu einer legendären Veranstaltung der Szene, der sogenannten »zersammlung« (Beitrag von Julia Hubernagel). Auf dieser Seite wird eine Auswahl dieser studentischen Beiträge präsentiert.
Das Programm des Workshops ist hier aufrufbar.
Die wissenschaftlichen Beiträge zu der Veranstaltung werden separat in Buchform publiziert.
Sarah Mahlberg
Unter Genies. Schreibende Frauen im Prenzlauer Berg
Die alternative Szene des Prenzlauer Bergs galt vielen inoffiziellen Künstler:innen als Rückzugsort. Schriftsteller:innen organisierten im Geheimen Lesungen in ihren Wohnküchen und brachten ihre eigenen Zeitschriften heraus. Doch wer genau war Teil dieser regimekritischen Bündnisse?
Beim Überfliegen der Inhaltsverzeichnisse einiger Zeitschriften zeigt sich: Nur wenige Frauen veröffentlichten dort ihre Texte. Die Literaturwissenschaftlerin Birgit Dahlke, Privatdozentin an der Humboldt-Universität, hat dieses Phänomen in ihrer Doktorarbeit Papierboot, Autorinnen aus der DDR – inoffiziell publiziert (1991) untersucht. Sie ist selbst im Prenzlauer Berg aufgewachsen und wollte über die Literatur von Gleichaltrigen promovieren, um sicherzustellen, dass diese nicht vergessen wird. Für das ungleiche Verhältnis von Männern und Frauen in der Szene, das sie über Berlin hinaus in allen inoffiziellen Literaturszenen beobachtet hat, liefert sie verschiedene Erklärungsansätze. Dahlke erklärt im Interview aber auch, warum dieses Missverhältnis in ihren Augen in Berlin besonders ausgeprägt war und welche Ausschlussmechanismen der Szene zugrunde lagen.
Die Autorin Annett Gröschner hat selbst Erinnerungen an die eigenartige Atmosphäre in den Hinterhöfen des Prenzlauer Bergs. 1964 in Magdeburg geboren, zog sie 1984 nach Ostberlin und publizierte unter anderem in der inoffiziellen Zeitschrift Bizarre Städte. Ohne es zu wissen, erlebte Gröschner die letzten Jahre der DDR mit. Ihr Wunsch nach Freiheit veranlasste sie, in die Stadt zu ziehen; allerdings empfand sie das Klima in der inoffiziellen Literaturszene schon damals als wenig freiheitlich, in Teilen sexistisch und rückständig – sie vermutet dahinter einen stark aufgeladenen »Geniebegriff«.
Bei genauerer Betrachtung des Themas wird schnell klar: Die Hintergründe für die Homogenität der stark männlich geprägten Ostberliner Untergrundszene sind vielfältig und monokausal nicht zu erklären.
Laura Kiefer
Hinterhöfe als Erinnerungsorte in der Literatur des Prenzlauer Bergs
Im Prenzlauer Berg waren Hinterhäuser und -höfe beliebte Treffpunkte unter den Künstler:innen und Intellektuellen der 1970er bzw. 80er Jahre. Hier traf man sich zu (Familien-)Festen, Konzerten, Lesungen, zum gemeinsamen Musizieren, Feiern und Schreiben.
Man könnte hier, nach Pierre Nora, von einem sogenannten Erinnerungsort der Prenzlauer Berg-Szene sprechen. Dabei handelt es sich um »jede materielle oder ideelle Bedeutungseinheit, die der Wille des Menschen oder die Arbeit der Zeit in einen symbolischen Bestandteil des memoriellen Erbes einer Gemeinschaft verwandelt hat« (Nora 1995: 80). Dazu zählen beispielsweise topografische Orte, reale und mythische Personen, Ereignisse, Lieder, Symbole, literarische Texte, Feiertage, Rituale und Institutionen. Erinnerungsorten kommt innerhalb einer kulturellen Gemeinschaft eine große Bedeutung zu. Menschen schließen sich als Kollektiv über gemeinsame Erfahrungen und historische Ereignisse zusammen, aber eben auch über konkrete (literarische, künstlerische, musikalische, …) Gegenstände oder Orte.
In der Literatur des Prenzlauer Bergs der 1980er Jahre finden sich Spuren des Lebens und Wirkens in den Berliner Hinterhöfen und -häusern, von denen nachfolgend einige Beispiele aufgeführt werden sollen.
Das folgende Zitat Endlers kann eher ironisch anstatt als bloße Feststellung gelesen werden. Das Wohnen im Hinterhaus scheint von großer Bedeutung für das alltägliche Leben und bereits Anfang der 1980er Jahre ein Unterscheidungsmerkmal der Szene zu sein – weswegen es im Grunde nicht verwunderlich oder ›merkwürdig‹ ist, dass Endlers Bekannte dort leben:
»[…] Natürlich Hinterhof, natürlich vierter Stock – wie merkwürdigerweise fast alle meine Bekannten im vierten oder fünften Stock im Hinterhaus wohnen […]« (Endler 1981: 135)
In Frank-Wolf Matthies‘ Unbewohnter Raum mit Möbeln (1980) häufen sich Beschreibungen verlassener Zimmer und Wohnungen, die stellvertretend für die ständige Bewegung und Ruhelosigkeit der Mitglieder der ›Szene‹ stehen. Matthies erreicht in seinem Text eine höhere Stufe der Abstraktion, auf der die DDR als surrealistisch dargestellt wird (Berendse 1990: 89). Die Außenwelt gibt es nur noch als vage Erinnerung und der Bezug zu ihr verringert sich immer weiter. Was bleibt, ist unter anderem die Erinnerung an einen Hinterhof:
»WOHIN WERDEN WIR GEHEN? WO WERDEN WIR ANKOMMEN? WAS WIRD SICH GEÄNDERT HABEN? Abblende. Es ist ein Zimmer, das an einen Hinterhof erinnert; es ist ein Stuhl, der an einen Stuhl erinnert; es ist ein Tisch, der an die ›golden fifties‹ erinnert; ein Mann, der an einen anderen Mann erinnert. Ist er der Dichter Adolf Endler!?« (Matthies 1980: 109).
Daniela Dahn schildert in ihrem Reportageband Kunst und Kohle (1987) Impressionen der Prenzlauer Berg-Szene. Der ›Hirsch‹ kann hier als Anspielung auf den Anfang der 19080er Jahre entstandenen Hirsch im Hirschhof – einem bekannten Hinterhof und Treffpunkt der Szene – verstanden werden:
»[…] Auf dem Platz ein kleiner Auflauf. Näher kommend, sehe ich, wie ein kräftiger junger Mann sich ein gewaltiges Gerippe auf den Rücken schnallt. Viel größer als ein Menschengerippe – vielleicht ein Bär? […] Von den Umstehenden ist des Rätsels Lösung zu erfahren: Der Mann ist ein Künstler – ein Aktionskünstler. Das Gerippe ist, oder besser war, ein Hirsch. […] Mit viel Mühe hat er dann das Gerippe des Hirsches präpariert. […] Aber die paar Passanten und Fensterkukker sind angesichts des Gerippes nicht sonderlich irritiert. […]« (Dahn 1987: 225f)
Ulrike Poppe reflektiert im Text »Es blieb wenig Zeit für uns selbst« ihr Leben im Prenzlauer Berg. Wenn sie an den Ostberliner Stadtteil denkt, fallen ihr zuallererst die Hinterhöfe ein – was dafür spricht, dass diese einen hohen Stellenwert in ihrer Erinnerung einnehmen.
»[…] Ich war behütet aufgewachsen und wollte nun in Berlin das sogenannte richtige Leben kennenlernen: mit Hinterhöfen, schmutzigen Kneipen, verwahrlosten Straßen […]« (Poppe 1999: 305).
Spuren von Hinterhäusern und -höfen finden sich also in vielen Texten der Literatur des Prenzlauer Bergs der 1980er Jahre wieder. Sie werden in unterschiedlichen Kontexten verwendet, zum Beispiel zur Wiedergabe und Beschreibung von Erinnerungen an die Landschaft des Prenzlauer Bergs, als Darstellung sozialer Strukturen, oder als Symbol der Künstler:innen- und Intellektuellenszene.
Julia Hubernagel
Filmprojekt »zersammlung«
Der Ostberliner Stadtteil Prenzlauer Berg ist in den 1980er Jahren ein Ort des kreativen Widerstands. Vor allem junge Künstler:innen zieht es in den Bezirk, wo in Untergrund-Zeitschriften und bei geheimen Zusammenkünften Kritik am sozialistischen Staat und dem Leben in der Mangelwirtschaft geübt wird – mittels Literatur, bildender Kunst und Musik. 1984 findet in einer Hinterhofwohnung eine mehrtägige Lesung statt, die »zersammlung«. Insgeheim hat die Staatssicherheit auch hiervon Kenntnis, lässt die Revolutionäre diesmal jedoch gewähren. Die jungen Literat:innen sind in ihrem Schreiben nicht allzu radikal. Ein konsequentes Verfolgen der Szene könnte das revolutionäre Feuer womöglich eher schüren, als es die Autor:innen mit ihren mitunter halbgaren Texten tun.
Obwohl die »zersammlung« einen Diskussionsrahmen für die Zukunft der Szene darstellen soll, befinden sich wie immer bei größeren Veranstaltungen im Publikum auch jene, die für Ärger sorgen, und jene, die weniger der Kunst, sondern des Alkohols wegen erscheinen. Die Stimmung ist fühlbar angespannt, persönliche Aversionen treten zutage. Die Szene sucht im Spannungsfeld zwischen harter Systemkritik und der Überlegung, Teil des Literaturestablishments der DDR zu werden, um die bestehenden Strukturen von innen zu verändern, nach Orientierung. Fixpunkt der Szene ist Sascha, die in ihren Texten gekonnt die Kritik am SED-Staat und die Ablehnung des kapitalistischen Westens, den sich in der Gruppe auch niemand als Ideallösung herbeisehnt, zu vereinen weiß. Dass sie noch an ganz anderer Front kämpft, ahnt noch niemand.
»zersammlung« erzählt beispielhaft von den Spannungsverhältnissen in einer sich als aktivistisch verstehenden Künstler:innengruppe. Unverkennbar im heutigen Berlin angesiedelt werden Schlüsselbegriffe wie »DDR« oder »Staatssicherheit« nicht genannt, um so der Szene, aber auch den zitierten Gedichten unvoreingenommener zu begegnen. Ohne den singulären Charakter des DDR-Widerstands in Frage zu stellen, bietet die Prenzlauer Berg-Szene Möglichkeiten, das Zusammenspiel von Kunst und Aktivismus näher zu untersuchen.
»Es gibt einen Punkt, dem ich mich immer wieder versuche zu nähern. Und es gibt drei Wege zu diesem Punkt. Die Wege sind Zigaretten, Musik und Schreiben. Und der Punkt ist keiner. Alle wollen geliebt werden.«
– Auszug aus »Zoro in Skorne« (Papenfuß, Faktor, Döring 1984)
Der Kurzfilm »zersammlung« wird vermutlich im Frühjahr 2022 veröffentlicht. Sie werden dann Gelegenheit haben, sich den Film an dieser Stelle anzusehen.
Sara Cecchini
Buchhandel in Ostberlin
Zur DDR-Zeit erlebten Buchhandlungen nicht wenige Schwierigkeiten. Einige von ihnen existieren noch heute und können auf eine lange Geschichte zurückblicken. Das wirft die Frage auf, wie die Buchhändler:innen im ehemaligen Ostberlin sich mit dieser Zeit auseinandergesetzt haben und welche Rolle die Buchhandlungen in dieser Situation spielten.
Die Inhaberinnen zweier unterschiedlicher Buchhandlungen wurden interviewt, und zwar Steffi Diez, die Inhaberin des Buchladens Die Insel, der sich im Stadtviertel Prenzlauer Berg befindet, und Heidrun Klinkmann, die Inhaberin von Das Sonnenhaus, das in Mitte liegt.
Es handelt sich um zwei unterschiedliche Typen von Buchhandlungen, denn während Die Insel eine Volksbuchhandlung war, ist das Das Sonnenhaus seit seiner Gründung ein christlicher Buchladen.
Interview mit Steffi Diez, Inhaberin des Buchladens »Die Insel«, geführt am 28.05.2021
Welche Geschichte hat diese Buchhandlung?
SD: Anfang der 90er Jahre hatte die Vorgängerin den Laden von der Treuhand erworben, denn alle volkseigenen Betriebe waren in den Besitz der sogenannten Treuhand gegangen. Die Buchhandlung existierte seit den 50er Jahren, damals hieß sie Thomas Münzer-Buchhandlung. Die Vorgängerin nannte die Buchhandlung Die Insel – wie ›Insel der Kultur‹ – denn hier in der Greifswalder Straße gab es plötzlich viele Videotheken (was es heute nicht mehr gibt), so dass die Buchhandlung hier quasi eine Insel der Kultur darstellte.
Wie bekam man zu DDR-Zeiten die Bücher, die verkauft wurden?
SD: Früher, zu DDR-Zeiten, war es so, dass die Buchhandlung die Bücher zugeteilt bekam, die Verkaufsstellenleiter konnten die Bücher nicht bestellen, sondern man hat die Bücher einfach bekommen. Es gab Werke, die das Weltbild des sozialistischen Realismus bedienten, und es gab andere, die mehr Probleme hatten. So wurden auch die Buchhandlungen ausgestattet, es gab natürlich Zensur, gerade bei politisch brisanten Texten, und es wurden auch Bücher unter den Ladentheken verkauft. Es gab eine extra Abteilung mit politischen Büchern und es gab Hinweise, welche Bücher verkauft werden durften und welche nicht, es wurde kontrolliert. Es gibt eine Geschichte von einem Verkaufsstellenleiter aus den 50er Jahren.
Im Folgenden kann die Geschichte aus der Perspektive des Sohnes des damaligen Verkaufsstellenleiters gelesen werden.
Erinnerungen von Elke und Michael T., zitiert aus Steffi Diez’ E-Mail (28.05.2021):
Mein Vater, Erwin Ernst T., hatte in der Nähe des Alexanderplatzes (um die Ecke vom Babylon) nach dem Kriege eine Leihbücherei. Nach Aufgabe der Bücherei war er Angestellter in der Bücherei Das Gute Buch am Alexanderplatz (im Haus der Sparkasse). Danach wurde er Filialleiter der Thomas Münzer-Bücherei. In der Bücherei befand sich nach meinen Erinnerungen im hinteren Bereich ein Raum, der ›besonderen Büchern‹ vorbehalten war, der sogenannte »Lit-Vertrieb« (politische Literatur). Wie aus Erinnerungen bekannt, wurden – je nach politischer Lage – in diesen »Lit-Vertrieb« zusätzliche Bücher aufgenommen bzw. Bücher aus diesem entfernt. Mein Vater war zwar für die gesamte Bücherei verantwortlich, jedoch war im »Lit-Vertrieb« eine extra Kraft beschäftigt. Nach einem Urlaub 1957 stellte sich heraus, dass zwischenzeitlich im »Lit-Vertrieb« Bücher nicht entfernt worden waren, obwohl dies angeordnet worden sein soll. Mein Vater wurde dafür verantwortlich gemacht. Er erhielt einen Anruf, dass seine Verhaftung unmittelbar bevorstehe. Innerhalb weniger Minuten flüchteten wir dann mit der S-Bahn von Prenzlauer Berg nach West-Berlin.
SD dazu: Durch die Buchhandlung und durch diese drohende Verhaftung hat sich das Leben der ganzen Familie entschieden.
Interview mit Heidrun Klinkmann, Inhaberin des Buchladens »Das Sonnenhaus«, geführt am 30.06.2021
Das Sonnenhaus blickt auf eine lange Tradition zurück. Heidrun Klinkmann hat die Buchhandlung 1985 übernommen, aber der Laden wurde 1925 von Rudolf Ziegler, Klinkmanns Vater, begründet und er befand sich schon damals in Mitte. 1945 wurde das Geschäft wegen eines Bombenangriffes zerstört und Rudolf Ziegler landete in russischer Kriegsgefangenschaft. Daher verlegte man den Laden in die Bohnsdorfer Wohnung. Während des Krieges leitete Elisabeth Ziegler, die Ehefrau, die Geschicke des Ladens und als Rudolf Ziegler 1949 zurückkehrte, schnappte er sich einen Bollerwagen und zog mit Büchern durch das Land, wo er die Ware vor Ort den Leuten verkaufte. 1959 konnte das Geschäft nach Mitte zurückkehren, und zwar in die Oranienburger Straße, wo es 41 Jahre lang bleiben konnte. Das Sonnenhaus überlebte auch die DDR-Zeiten als privatgeführter christlicher Buchladen, aber nicht ohne Schwierigkeiten. Da alle Bücher zur DDR-Zeit zugeteilt wurden, wurden zuallererst die Buchläden der Nationalen Volksarmee beliefert, dann die Stasi-Läden und die Volksbuchhandlungen und am Ende der Schlange standen private und kirchliche Buchhandlungen. Aus diesem Grund war es wichtig, Kontakte mit den Verlagen zu knüpfen.
Wie war die Beziehung zwischen Buchhändler*innen und Kunden in Ostberlin?
HK: Dadurch, dass wir eine christliche Buchhandlung zur DDR-Zeit waren, hatten wir Stammkunden. Wir haben die Sachen aus den christlichen Verlagen bekommen, eine Besonderheit war, dass wir in den Gemeinden Büchertische gemacht haben. Wir sind mit unseren Büchern immer in die Gemeinden gefahren… Die Leute kamen zu uns, meistens weil sie christliche Literatur nicht in den Volksbuchhandlungen erhielten. Die haben ganz anders geliefert, die haben gute Literatur wie Lizenzausgaben aus dem Westen gehabt, die haben sie gekriegt und wir nicht. Wenn man den Verlag kannte und man legte vielleicht was auf den Tisch, meine Mutter konnte das gut, entweder West-Zigaretten oder Kaffee, dann konnte man auch etwas bekommen, mein Vater aber wollte das nicht. Wir waren zur DDR-Zeit nicht nur Buchhändler, sondern irgendwie auch Ansprechpartner. Meine Mutter z.B. konnte gut zuhören, und es gab viele Leute, die sich beschwert haben oder Sorgen hatten. Man guckte sich um, ob es jemanden in dem Laden gab, und dann erzählten die Leute. Meine Mutter war Psychologin in den 50er Jahren.
Der Theologe und Philosoph Thomas Brose hat eine typische Szene über das Klima des Ladens erzählt:
Für das besondere Klima im Sonnenhaus war folgende Szene typisch: Ein Kunde fragt, ob ein neu erschienener Band von Böll oder Frisch zu haben sei. Darauf antwortete Rudolf Ziegler: »Da müssen Sie zwei S-Bahn-Stationen weiterfahren.« – »Also von hier aus bis zur Jannowitzbrücke?« – »Nein, andere Richtung.« Jeder wusste natürlich, dass damit der Weg in Richtung Westen, das heißt über die Grenze, gemeint war. Es gab nicht viele, die den Mut bzw. die Chuzpe aufbrachten, so zu reden. Rudolf Ziegler hat die von den Mächtigen gesetzten Grenzen nicht einfach akzeptiert und dadurch auch für andere Freiraum geschaffen. (Brose 2002: 36)
Hannah Würsching
Frauen im Untergrund – Gabriele Stötzer und die Künstlerinnengruppe Erfurt
Die Künstlerin und Schriftstellerin Gabriele Stötzer (zeitweise Kachold) wird 1953 im thüringischen Emleben geboren. Sie studiert an der pädagogischen Hochschule in Erfurt, bis sie 1976 exmatrikuliert wird, da sie sich mit einem kritischen Kommilitonen solidarisiert hatte. Noch im selben Jahr beteiligt sie sich an der Unterschriftensammlung gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns, woraufhin sie zu einem Jahr Gefängnis verurteilt wird. Nach ihrer Haftentlassung macht sie sich als Künstlerin in verschiedenen Untergrundszenen der DDR einen Namen.
Als eine von wenigen literarisch aktiven Frauen innerhalb der Untergrundszene findet Stötzer ihren eigenen Umgang mit chauvinistischen und sexistischen Strukturen und gründet unter anderem als Antwort darauf 1984 die Künstlerinnengruppe Erfurt. Über diesen Akt der Selbstermächtigung und ihre Erfahrungen als rebellische Frau in der DDR hat sie mit Hannah Würsching gesprochen.
Literaturverzeichnis
Beitrag von Sarah Mahlberg
Buskotte, Nicola (Hg.): Ungleiche Schwestern? Frauen in Ost- und Westdeutschland. Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, Wissenschaftliches Symposium. Berlin: Nicolai 1998.
Dahlke, Birgit: Papierboot. Autorinnen aus der DDR – inoffiziell publiziert. Würzburg: Königshausen & Neumann 1997.
Richter, Angelika: Das Gesetz der Szene. Genderkritik, Performance Art und zweite Öffentlichkeit in der späten DDR. Bielefeld: Transcript 2019.
Wander, Maxi: »Guten Morgen, du Schöne«. Frauen in der DDR. Protokolle. 22. Aufl. Darmstadt: Luchterhand 1987.
Beitrag von Laura Kiefer
Berendse, Gerrit-Jan: Grenz-Fallstudien. Essays zum Topos Prenzlauer Berg in der DDR-Literatur. Berlin: Erich Schmidt 1999.
Dahn, Daniela: Kunst und Kohle. München: Luchterhand 1987.
Endler, Adolf: Tarzan am Prenzlauer Berg. Leipzig: Reclam 1994.
Matthies, Frank-Wolf: Für Patricia im Winter. Gedichte. Reinbek: Rowohlt, 1981.
Nora, Pierre: »Das Abenteuer Lieux de memoire«. In: François, Etienne; Siegrist, Hannes; Vogel, Jakob (Hg.): Nation und Emotion. Deutschland und Frankreich im Vergleich. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1995.
Poppe, Ulrike: »Es blieb wenig Zeit für uns selbst«. In: Felsmann, Barbara; Gröschner, Annett (Hg.): Durchgangszimmer Prenzlauer Berg. Eine Berliner Künstlersozialgeschichte der 1970er und 1980er Jahre in Selbstauskünften. Berlin: Lukas 1999.
Beitrag von Julia Hubernagel
Papenfuß, Bert; Faktor, Jan; Döring, Stefan: »Zoro in Skorne«. In: Schaden (1985), H. 4.
Beitrag von Sara Cecchini
Brose, Thomas: »Das Sonnenhaus. Über die Entdeckung eines geheimnisvollen Leselandes.«In: Jahrbuch für das Erzbistum Berlin (2002), S. 32–38.
Löbker, Jörg: »Zwei Leben zwischen Titeln, Seiten und Regalen. Heidrun und Bettina Klinkmann.« In: Bustorf, Christina (Hg.): Erzbistum Berlin Gesichter und Geschichten. Band 2. Leipzig: Benno 2015, S. 125–129.
Musik (Beitrag von Sarah Mahlberg)
Goran Andrić-Agi / zagi2: Dirty punk loop, https://freesound.org/people/zagi2/sounds/230362/
Setuniman: Comforting 1C68, https://freesound.org/people/Setuniman/sounds/199521/
Bildquellen
Beitrag von Sarah Mahlberg
Abb. 1: Literarischer Salon von Ekkehard Maaß, Panorama-Lesung, Berlin. Fotografie von Helga Paris, 1981.
Beitrag von Laura Kiefer
Abb. 2: Fest auf dem Hirschhof, Berlin – Prenzlauer Berg. Fotografie von Harald Hauswald, 1986. Deutsche Fotothek Dresden, Datensatz 71679864. Online abgerufen unter: http://www.deutschefotothek.de/documents/obj/71679864
Abb. 3: Hinterhof, Berlin-Prenzlauer Berg. Fotografie von Harald Hauswald, 1985. Deutsche Fotothek Dresden, Datensatz 71679826. Online abgerufen unter: www.deutschefotothek.de/documents/obj/71679826
Beitrag von Julia Hubernagel
Abb. 4: Screenshot aus dem Kurzfilm »zersammlung«. R: Julia Hubernagel. Berlin 2022.
Beitrag von Sara Cecchini
Abb. 5: Buchhandlung »Thomas Münzer« [später: »Die Insel«]. Fotografie aus dem Besitz von Steffi Diez, 1971.
Abb. 6: Buchhandlung »Das Sonnenhaus«. Fotografie aus dem Besitz von Heidrun Klinkmann, vermutlich frühe 1970er Jahre.
Beitrag von Hannah Würsching
Abb. 7: Gabriele Stötzer bei einer Lesung. Fotografie von Ute Eichel, 1988.
Abb. 8: Gabriele Stötzer präsentiert bei einer Modenschau das Objekt »Der Hausdrachen«. Fotografie von Bernd Hiepe, 1989.