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RENGA: Ein mehrsprachiges Dichtungsexperiment

RENGA-Ausgaben: Gallimard 1971, Braziller 1971 und Mortiz 1972

RENGA-Ausgaben: Gallimard 1971, Braziller 1971 und Mortiz 1972

Dans cette grotte: Bildcollage von Versatorium – Verein für Gedichte und Übersetzen, Wien 2020

Dans cette grotte: Bildcollage von Versatorium – Verein für Gedichte und Übersetzen, Wien 2020

1969 treffen sich die Dichter Octavio Paz, Jacques Roubaud, Edoardo Sanguineti und Charles Tomlinson in Paris zu einem Akt kollektiver Autorschaft. Ausgehend von der Form des 'renga', eines traditionellen japanischen Kettengedichts mit strikten Regeln, ziehen sie sich zwischen dem 30. März und dem 3. April in einer Art kreativem Selbstexperiment in den Keller des Hotel Saint-Simon zurück. In fünf Tagen erschaffen sie ihre Version der japanischen Lyrikform mit dem Titel RENGA: ein Gedicht aus 27 Sonetten.

Das heute wenig bekannte kollektive Werk erscheint 1971 bei Gallimard im mehrsprachigen Original und in französischer Übersetzung von Roubaud und bei Braziller mit einer beigestellten englischen Übersetzung von Tomlinson, 1972 folgt die bei Mortiz erscheinende Ausgabe mit einer Übertragung ins Spanische von Paz – Sanguineti bleibt eine italienische Ausgabe schuldig.

RENGA besteht aus vier Reihen à sieben (einmal sechs) titellosen, nummerierten Sonetten, wobei jedes Sonett das Werk der vier Autoren ist, die – mit alternierendem Beginn – jeweils eine Strophe verfassten. In den vier initialen Sonetten I1–IV1, die Paz, Roubaud, Sanguineti und Tomlinson am 30. März 1969, dem ersten Tag ihrer unterirdischen Schreibenklave verfassen, beginnt Paz das Sonett I1, Roubaud II1, von Tomlinson ist die erste Strophe von III1 und Sanguineti eröffnet IV1.

In den folgenden Strophen und Gedichten wird der Faden des Beginns von den jeweils anderen Schreibenden aufgenommen, weitergesponnen, verwandelt, übersetzt – nicht nur auf Ebene der Motive, der Wortwahl und des Stils, sondern gerade auch in seiner spezifischen Sprachlichkeit. Das Spanische, Französische, Englische und Italienische, zunächst noch deutlich voneinander getrennt, respondieren so immer stärker, fließen ineinander, vermischen sich, übersetzen sich in- und untereinander. Übersetzung steht – implizit und, wie sich in Paz’ Vorwort der drei Ausgaben nachlesen lässt, auch explizit – im Zentrum des gemeinsamen Schaffensprozesses der vier Autoren aus Mexiko, Frankreich, Italien und Großbritannien: RENGA ist Ausdruck und Zeugnis einer Konzeption von poetischer Schöpfung als Übersetzung, und von Übersetzung als Verwandlungsprozess.

Anna Luhn und Lena Hintze